Solidarität - ein Lebensgut

Die Krisensymptome der wissenschaftlich-technisch-ökonomischen Zivilisation stehen im Zusammenhang mit einer notorischen Vernachlässigung des „Systemischen“ gegenüber dem „Lokal-Ursächlichen“, einer bewussten Unterbetonung des „Gemeinsamen“ gegenüber dem „Individuellen“ und einer Abwertung von „Solidarität und Gemeinsinn“ gegenüber der isolierten Eigenleistung und dem „Eigennutz“.

Offensichtlich stellt sich dabei nicht die Frage nach einem Entweder-oder. Denn das eine wie das andere ist notwendig. Es geht vielmehr um die Suche nach Möglichkeiten eines fruchtbaren Zusammenspiels von Teilen innerhalb eines Gesamtsystems, so dass das Ganze mehr wird als die Summe seiner Teile. Solidarität ist nicht nur eine gefeierte Errungenschaft der von uns wortreich gepriesenen „humanen“ Gesellschaft. Solidarität ist ein für uns existentiell wichtiges Lebensgut, das im Erfolg des Plussummenspiels bei der Herausbildung der höheren Lebensformen auf der Erde wurzelt. Hierbei triumphieren im Überlebenskampf der Arten letztlich nicht einfach die „Stärkeren“ über die „Schwächeren“ nach dem primitiven K.o.-Ausleseprinzip (Nullsummenspiel) – wie es von unserer Wirtschaft als das vermeintlich „natürliche“ Prinzip kopiert wird – sondern diejenigen, die geschickt die Verschiedenartigkeit der Lebensformen in ihrer Umgebung zu ihrem eigenen Vorteil und gleichzeitig auch zum Vorteil ihrer Partner nutzen.

Langfristige Überlebensfähigkeit, Zukunftsfähigkeit von komplexen Systemen setzt nicht nur Stärke und Beweglichkeit der einzelnen Glieder voraus, sondern die Einsicht, dass in der Verschiedenartigkeit, der Vielfalt der Glieder nicht nur eine Bedrohung lauert, sondern ungeahnte Möglichkeiten liegen, im Einvernehmen mit anderen auch schwierigere Aufgaben zu meistern, die der Einzelne allein nicht lösen kann. Weit besser als bei den auf ganz bestimmte Situationen hin starr optimierten Systemen, eröffnen sich für eine individuell hochentwickelte, differenzierte, pluralistische und kooperative Gesellschaft vielfältige Chancen, auf überraschend veränderte äußere Bedingungen flexibel reagieren zu können und eben darum langfristig überlebensfähig zu werden. Zukunftsfähig ist, was zum Plussummenspiel bereit ist, was im anderen, dem Mitmenschen, der Mitnatur, vornehmlich den Mitspieler und nicht den Gegenspieler sieht.

So stehen soziale Verträglichkeit und ökologische Nachhaltigkeit nicht im Widerspruch zueinander, sondern streben das gleiche auf zwei verschiedenen Ebenen an. Ein Plussummenspiel muss jedoch scheitern, wenn eine Gesellschaft, wie die unsrige im wirtschaftlichen Bereich, „den Kampf aller gegen alle“ gewissermaßen als Naturprinzip propagiert und darüber hinaus auch noch alle zu einem gemeinsamen Feldzug gegen die übrige „Natur“ aufruft, eine Natur, die sie nurmehr als „Umwelt“ im Sinne einer Arena für ihre vielfältigen, eigensüchtigen Beutezüge, als unendlich ergiebigen Steinbruch und beliebig schluckfähige Müllkippe begreift und nicht, was sie eigentlich ist, als ihre natürliche Lebengrundlage.

Eine freie Marktwirtschaft erscheint gleichwohl vielen als die beste Form, um die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger einer Gesellschaft angemessen zu befriedigen, denn jeder hat dabei die Möglichkeit nach eigenem Ermessen und in eigener Kompetenz beim Kauf seine für ihn beste Auswahl zu treffen. Diese Idealsituation ist jedoch realiter nur in seltenen Fällen gegeben. Zunächst ist nicht jeder Bedürftige ein möglicher Kunde am Markt, sondern nur diejenigen, welche über ausreichend Geld verfügen. Bei steigender Arbeitslosigkeit fallen immer mehr – und hierbei gerade die Bedürftigsten – als verhandlungsfähige Käufer aus. Doch auch die Kauffähigen haben nur geringe Chancen, das ihren Wünschen Angemessene und das für sie beste Produkt herauszufinden, weil ihnen die dazu nötigen Informationen fehlt. Durch eine massive schönfärberische Werbung wird der Kunde auf wissenschaftlich erprobte Weise zum Kauf von Produkten verführt, die zunächst kaum in seinem Interesse liegen. Der unerbittliche Wettbewerb zwischen den Produzenten und Anbietern verleitet doch dazu, die Bürgerinnen und Bürger über Medien zu verdummen anstatt sie als aufmerksame und gewissenhafte Kunden zu einer informierten, kompetenten Entscheidung zu befähigen, wie dies eigentlich in den Lehrbüchern der freien Marktwirtschaft als Idealfall beschrieben wird.

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