Die Begrenztheit unserer Wahrnehmung
Ich möchte an eine alte tibetanische Weisheit erinnern: „Ein Baum der fällt, macht mehr Krach als ein Wald, der wächst!“ Ja, es ist klar, unsere Wahrnehmung wird stark von „fallenden Bäumen“ dominiert, was gewaltig ist, was schnell passiert, was uns bedroht oder als Bedrohung erscheint. Die ganze, auf uns überkommene Geschichte ist voll fallender Bäume: Krieg und Zerstörung, mächtige Kaiser und Könige, die sich als große Feldherren und Eroberer ausgezeichnet haben.
Ja, es sind ja auch immer die schrecklichen Ereignisse, die uns täglich als Schlagzeilen zu Gesicht kommen und uns glauben machen, dass dies nun auch wirklich das Wesentliche sei, was in der Welt passiert. Die fallenden Bäume erscheinen uns wichtig und ihr Fallen nachvollziehbar, denn es ist doch eine unausweichliche Tatsache, dass jeder Baum einmal fallen muss. Doch dann wundern wir uns, dass es trotz all dieser Zerstörung immer noch Leben auf unserer Erde gibt und wir erkennen daraus, dass es der „wachsende Wald“ ist, auf das es letztlich ankommt.
Es ist der wachsende Wald, der das Leben fortführt. Wer erwähnt schon den wachsenden Wald? Er verändert sich langsam, ganz unauffällig, doch beständig, nur erkennbar, wenn wir bewusst über längere Zeit unser Augenmerk darauf richten. Dass jedoch das Wachsende, das Aufbauende langsamer gehen muss als das Abbauende, Zerstörerische, ist kein Zufall. Wachsen beschreibt in gewisser Weise einen mühsamen Gegentrend, ähnlich wie der schwierige, gegen die Schwerkraft gerichtete Aufstieg eines Bergsteigers im Vergleich zu seinem Herunterfallen.
Globalisierung und Differenzierung
Doch machen wir den Sprung zurück in unsere Lebenswelt. Versuchen wir unsere neuen Einsichten in die Struktur unserer Wirklichkeit in unsere Lebenswelt einzuflechten und für den Menschen und die menschliche Gesellschaft fruchtbar zu machen. Der Mensch ist ein Teil, oder besser ein Beteiligter dieser größeren, offeneren Wirklichkeit. Wir haben als Menschen die Gabe der bewussten Wahrnehmung, der Erkenntnis, des orientierten Lernens. Warum versuchen wir nicht mehr die wichtigsten Lehren aus dem großen Lernprozess zu ziehen, den die Evolution des Lebens auf der Erde uns vermittelt und deren krönendes Produkt wir sind?
Es geht hierbei nicht um Bewahrung der Vitalität der Natur, die ohne uns zurechtkommt, sondern über die Bewahrung unserer eigenen natürlichen Lebensgrundlagen, unsere eigene Zukunft, die Zukunft des homo sapiens sapiens. Gehen wir nicht von der Vorstellung aus, dass wir primär alle Egoisten sind, die nur ihren persönlichen Vorteil im Kopf haben und sich nun mühsam und gegen ihre eigentliche Prägung um den Frieden kümmern müssen.
Sondern wir sind Menschen, die insgeheim wissen, dass wir im Grunde alle verbunden sind. Jeder von uns ist auf einer tieferen Ebene ein Freund des anderen, der uns nicht mehr als ganz Fremder begegnet, sondern als eine Art erweiterte und veränderte Form unseres „Selbst“. Wenn es dem anderen gut geht, dann geht es auch mir gut. Das ist das Prinzip, nach dem in einer so relativ kurzen Zeit von drei Milliarden Jahren diese erstaunliche Vielfalt und Komplexität von Lebensformen einschließlich des Menschen entstehen konnten. Leben, so unwahrscheinlich es uns als natürlicher Prozess erscheint, ist möglich und deshalb ist auch Frieden möglich. Denn Frieden bedeutet ja einfach dieses Paradigma des Lebendigen auf der Ebene der menschlichen Gesellschaft weiter zu führen.
Wir begeben uns auf den richtigen Weg, wenn wir die Vorzüge von Differenzierung und Vielheit betonen und von der Würde des Menschen sprechen, die es zu schützen gilt. Jeder und jede sind einmalig. Lasst ihnen je ihre Einmaligkeit, weil ihre Vielzahl hochdimensionale Gestaltungsräume aufspannen, in der neue und überraschende Realisierungen möglich werden.
Denn in der Summe von verschiedenen, einmaligen Menschen verfügt die Menschheit prinzipiell über ein gewaltiges Überlebenspotential, um flexibel den Herausforderungen einer offenen und nicht nur unbekannten Zukunft begegnen zu können. Dies jedoch nur, wenn die Einzelkräfte nicht gegeneinander wirken und diese Einmaligkeiten sich nicht in einem k.o.- Wettbewerb, einem Nullsummenspiel, das Leben wechselseitig schwer machen, sondern lernen, ein Plussummenspiel zu inszenieren, wo der Vorteil des einen auch zum Vorteil der anderen wird.
Und dies nicht aufgrund eines von toleranten Egoisten gönnerhaft gewährten Altruismus, sondern der offensichtlichen positiven Erfahrung, bei sich veränderter Situation, wo eigene Fähigkeiten versagen, auf Unterstützung durch besser geeignete Fähigkeiten anderer vertrauen zu können. Das ist doch das Prinzip, warum Frieden so fruchtbar ist. Durch unsere allgemeinen „humanen“ Fähigkeiten zur Empathie, Umsicht, Fürsorge, Solidarit.t und Liebe sind wir ja dafür, allen Zweiflern zum Trotz, als Menschen doch auch ausreichend disponiert.
Zusammenspiel der Kulturen
Eine durch Individualisierung geförderte höhere Differenzierung der Menschen muss, um größere Spannungen auszugleichen, geeignet zu einer konstruktiven Integration geführt werden. Viele glauben, dass dies durch eine Globalisierung der Weltwirtschaft am besten erreicht werden kann. Systemisch betrachtet, sind dafür jedoch die Spielregeln eines Plussummenspiels entscheidend notwendig, weil nur durch dieses die erzielte fruchtbare und wesentliche Differenzierung beim Zusammenschluss nicht verloren geht.
Der Mensch muss in seiner Eigenart geachtet werden und dies nicht nur formal, sondern in seiner eigentlichen Bedeutung, wie es etwa in unserem Grundgesetz und den demokratischen Verfassungen steht. Aber wir sollten darüber hinaus auch auf die verschiedenen wunderbaren Kulturen achten, die Menschengruppen als Ausdruck ihres höheren Selbst auf unserer Erde geschaffen haben. Wir brauchen eine Globalisierung, die diese Differenzierung der Kulturen geeignet respektiert. Die kapitalistische Marktwirtschaft, die aus einer speziellen Kultur, der westlichen, hervorgegangen und in ihrem Wertkodex nur sehr beschränkt ist, kann das nicht leisten.
Insbesondere sollte immer wieder daran erinnert werden, dass keine Kultur darauf bestehen kann, sie alleine verkündige und verkörpere das Wahre, Gute und Schöne. Wir haben im 20. Jahrhundert gelernt, mit der Frage nach Einzigartigkeit sorgfältiger und zurückhaltender umzugehen, in einer Wirklichkeit, die sich nicht mehr als eine begreifbare und begrifflich scharf fassbare Realität verstehen lässt. Prinzipielle Grenzen des Wissbaren erzwingen die Notwendigkeit, über vieles für uns Wesentliche, nur in Form von Gleichnissen und Bildern sprechen zu können.
So entsprechen die verschiedenen Weltkulturen nur verschiedenen Gleichnissen, die nicht direkt und wörtlich gegeneinander gesetzt werden dürfen, sondern nur auf etwas Gemeinsames deuten, das sich in der Zusammenschau aller Kulturen vielleicht erahnen lässt. Denn auch hierbei ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile. Das bedeutet: Eine Weltkultur kann nicht in einer, sondern muss in sehr vielen Sprachen reden. Und es ist wunderbar, dass es diese verschiedenen Sprachen gibt, nämlich nur dadurch verwirklicht sich eigentlich das, was im Paradigma des Lebens verborgen liegt, nämlich zu höheren Formen des Lebendigen und vielleicht auch des Bewusstseins vordringen zu können.
Pluralismus der Weltwirtschaft
Die heute propagierte Globalisierung der Wirtschaft leistet alles dies nicht. Durch die Forderung nach Niederreißen aller nationalen Grenzen, welche bei demokratischer Verfassung die Einflussbereiche der jeweiligen Souveräns, der Bürgerinnen und Bürger eines Landes kennzeichnen, zerstört sie die für eine höhere Ebene notwendige kulturelle und individuelle Differenzierung. Der oberflächliche materielle Pluralismus einer Weltwirtschaft hat nichts mit dieser Differenzierung zu tun. So verkommt diese Globalisierung zur machtvollen Zentralisierung, zur Weltherrschaft einer kleinen Elite. Integration unter Wahrung der erworbenen Differenzierung ist eine Kunst.
Sie kann nur durch die angemessene Beteiligung aller Betroffenen geschaffen werden. Der menschliche Körper ist ein eindrucksvolles Beispiel für solch eine erfolgreiche Globalisierung. Er verwendet Zellwände, durchlässige Hecken und nicht die starre Alternative Mauern/freies Feld, um Verschiedenartiges und dabei auch Unverträgliches, unter Wahrung ihrer Besonderheit, wertsteigernd für alle zu einem höheren Ganzen vereinen zu können.
Frieden bedeutet: Das erfolgreiche Spiel des Lebens auf die Ebene der menschlichen Gesellschaft übertragen. Die Frage ist nicht: Wird uns die Zukunft Frieden bringen? Sondern: Was müssen wir heute unternehmen, damit wir zukünftig friedlich zusammenleben können. Frieden wird uns nicht einfach in den Schoß fallen, sondern verlangt eine besondere Anstrengung. Frieden muss mit viel Einsicht, Umsicht, Vorsicht und Weitsicht erprobt werden. Frieden ist eine Kunst. Es bedeutet zunächst, dass uns bewusst wird, was Menschen im Grunde verbindet. Es erfordert nicht, die gleiche Sprache zu sprechen oder in Werten und Bewertung überein zu stimmen, sondern das Andersartige zu tolerieren und, mehr noch, es voll zu respektieren, Das meint: Wenn wir eine andere Sprache hören, wenn wir mit einer anderen Kultur oder Religion in Berührung kommen, aufmerksam zuzuhören und das Neuartige offen aufzunehmen, anstatt es sofort unseren eigenen Vorstellungen gegenüber zu stellen.
Denn nicht durch das, was wir schon kennen, sondern was uns erstaunt, werden wir reicher. Die Verschiedenheit der Kulturen, anstatt sie als Bedrohung zu empfinden, wird so für uns zu einer Quelle des Reichtums, die wir für eine bessere Verständigung nützen können und nützen sollten. Dies wird von Bedeutung, wenn wir vom Fundamentalismus als einer Hauptgefahr für den Frieden sprechen. Der Fundamentalismus ist, in der Tat, eine Gefahr. Viele denken dabei zunächst an den religiösen Fundamentalismus, wie etwa den islamischen. Wir sollten hierbei jedoch nicht vergessen, dass die moderne Heilslehre, nämlich die westliche wissenschaftlich-technisch-wirtschaftliche Ideologie, heute Gefahr läuft sich zum schlimmsten Fundamentalismus zu entwickeln und andere große und für die Zukunftsfähigkeit des Menschen wesentliche Kulturen in große Bedrängnis bringt.
Wie erlernen wir die Kunst des Friedens?
Wir müssen in Richtung gewaltloser Konfliktbearbeitung weit größere Anstrengungen unternehmen, um hier die dafür notwendigen Fortschritte zu machen. Wir sollten hierbei zum Vergleich die vielfältigen und titanischen Anstrengungen, den riesigen materiellen Aufwand und die erfinderische Intelligenz uns vor Augen führen, die in tausenden von Jahren Kriegsgeschichte gemacht wurden, um Konflikte erfolgreich mit Gewalt lösen zu können, mit all dem daraus angesammelten reichen Fundus an wertvollen Erfahrungen. Könnten wir nur 1 % von der Intelligenz, die heute noch in die Weiterentwicklung der Waffen investiert werden, in Überlegungen aufwenden, wie man Konflikte gewaltlos angehen, vermeiden, entschärfen, auflösen und begrenzen könnte, dann würde sich dramatisch viel im Umgang der Länder miteinander und auch zwischen den Menschen verändern. Dies würde unsere heutigen Schwierigkeiten nicht auf einen Schlag beseitigen, aber es könnte ein wirksamer Anfang sein für eine erfolgreiche Weiterentwicklung von Einsichten und Instrumenten zu einer umfassenden, kompetenten und effizienten gewaltlosen Konfliktbearbeitung.
Das Leben selbst und seine Evolution, könnte uns dabei ein guter Lehrmeister sein, wie das gehen könnte. Der Mensch hätte in diesem Entwicklungsprozess nicht entstehen können, wenn nicht ein Plussummenspiel "mein Vorteil ist auch dein Vorteil" ein konstruktives, synergetisches Zusammenleben von extrem Verschiedenartigem ermöglicht hätte. Stellen sie sich einmal vor, was sich da in unserem Körper konkret abspielt. Ein jahrzehntelang funktionierendes globales System, mit vielen latenten Unverträglichkeiten, wie etwa Blut und Gehirn, die einander dringend brauchen, aber zum Tode führen, wenn Blut ins Gehirn kommt. Hier werden geeignete Hürden und Schranken eingebaut, um dies zu verhindern: „Ich brauche dich, aber komme mir nicht zu nahe!“, heißt es bei beiden.Wir sollten also die Natur genauer betrachten, wie sie erfolgreich Plussummenspiele inszeniert. Damit sollten wir jedoch unverzüglich anfangen.
Was können wir unternehmen, um die gewaltlose Konfliktbearbeitung in unserer Gesellschaft mehr in den Vordergrund zu rücken und ihr den langfristig notwendigen hohen Stellenwert zu verschaffen? Diese Aufgabe muss ein zentrales und hervorragendes Anliegen der Gesellschaft werden, wie bisher ihr militärisches Engagement. Es muss deshalb unter der direkten Kontrolle des Souveräns, den Bürgerinnen und Bürgern stehen, also des Staates nach unserer demokratischen Verfassung.
Es reicht aus meiner Sicht nicht aus, dass eine solch schwierige und lebenswichtige Aufgabe vornehmlich, wie jetzt, nur ehrenamtlich an Feierabenden und Wochenenden und außerhalb der staatlichen Institutionen angegangen wird, obwohl mit dieser Methode zweifellos bisher die besten Erfahrungen gemacht worden sind. Denn wenn jemand etwas ehrenamtlich macht, kann man wirklich davon ausgehen, dass er es nicht zu seinem eigenen Nutzen, sondern aus Verantwortung für die Gesellschaft und ihre Zukunft tut.
Hier zeigt sich eine Haltung, von der Allgemeinheit nicht nur zu fordern, sondern ihr auch in wesentlichen Fragen zu dienen, und die Einsicht, dass wenn man den eigenen Vorteil mehrt, es auch ein Vorteil für die anderen sein muss. Dies passt hervorragend als Voraussetzung für ein friedliches Konfliktmanagement. Keine Frage: Es existiert in der heutigen Zivilgesellschaft ein gro.es Potential an kompetenten Persönlichkeiten, mit denen ein guter Start dieses ehrgeizigen Vorhabens gelingen k.nnte.
Der wachsende Wald über den niemand spricht, der in keinem Geschichtsbuch erwähnt wird und trotzdem der Grund ist, warum wir heute noch auf dieser Erde sind. Und wer ist denn der wachsende Wald? Der wachsende Wald sind und waren eigentlich vor allem unsere Frauen, die nicht nur im Kopf, sondern in ihren Herzen die Verantwortung für die Zukunft tragen. Und das ist meine Hoffnung: 50 % der Menschheit sind Frauen. Und dann sind noch ein paar von uns Männern dabei. Wir haben also die Mehrheit!