Wie die Wissenschaft zur Machenschaft geworden ist

Die Naturwissenschaftler – und allen voran die Physiker – sind die großen Helden unserer Zeit. Ihre Erfindungsgabe ermöglichte ein enormes Wirtschaftswachstum, eine ständige Erhöhung unseres Lebensstandards und einen Zuwachs für uns an Macht über die Natur und unsere Widersacher. Die Naturwissenschaftler werden dafür vom Steuerzahler großzügig gefördert, von Regierungen, Verwaltungen und Wirtschaft hofiert und dekoriert. Aber spätestens mit der Atombombe haben die Physiker ihre Unschuld verloren.

Sie wissen das und leiden darunter. Einige entwickelten deshalb den Ehrgeiz, diese tiefe Scharte auszuwetzen und durch eine positive Perspektive zu kompensieren. Sie wollen demonstrieren, dass die Atomkernenergie nicht nur im höchsten Maß zerstören, sondern im gleichen Maße auch konstruktiv für die Menschen genutzt werden kann: die Atomkernenergie soll eine wachsende Menschheit langfristig von allen Energiesorgen befreien! Die Physiker wurden deshalb nach dem Krieg zu den entscheidendsten Befürwortern und Betreibern einer friedlichen Nutzung der Kernenergie.

Unerschöpfliche Erfindungsgabe

Die großen Erfolge der Wissenschaft und ihrer Methoden, die sich in einer atemberaubenden Entwicklung der Technik widerspiegelt, hat die Menschen in den industrialisierten Ländern unbescheiden und arrogant gemacht. Die Naturwissenschaftler werden allgemein als die großen Zauberer unserer Zeit angesehen, die letztlich alle Probleme unseres Alltagslebens lösen und viele unserer Wunschträume realisieren können. Leider waren sie bisher zu erfolgreich, als dass sich ernsthafte Zweifel an dieser Entscheidung einschleichen konnten. Die Wirtschaft hat sich anscheinend diese Vorstellung zu eigen gemacht. Es ist die unerschöpfliche Erfindungsgabe des Menschen, welche, wie sie glaubt, letztlich jede Grenze zu sprengen vermag. Sie soll insbesondere gewährleisten, dass die offensichtliche Begrenztheit nichterneuerbarer Ressourcen, von denen unsere Wirtschaft derzeit entscheidend zehrt, immer wieder durch Entdeckung und Nutzbarmachung neuer Ressourcen überwunden werden kann.

Diese Betrachtungsweise verkennt jedoch, dass mit der Erschließung neuer Ressourcen sich nicht etwa ein bestimmter Vorgang „Entdeckung – Entwicklung – wirtschaftliche Umsetzung“ gleichartig wiederholt, sondern dass damit auch eine gewisse Eskalation verbunden ist. Mit jedem neuen Schritt steigt nämlich im Allgemeinen der Schwierigkeitsgrad, wodurch der Grenznutzen kleiner wird: der Aufwand muss vergleichsweise ansteigen, um einen gleichwertigen Nutzen zu erzielen. Dieser Sachverhalt wird bei heutiger Rechnungsweise, die nur einen Teil des Aufwandes wirklich erfasst und beim Nutzen die negativen Nebenfolgen ignoriert, völlig verschleiert. Der fallende Grenznutzen zwingt deshalb zu einem immer schnelleren Verbrauch von Ressourcen und zu immer extremeren und riskanteren Formen der Technik. Ein Beispiel dafür ist die Förderung von Öl aus dem Erdinneren, die in absehbarer Zeit zurückgehen wird. Jetzt denkt man die Ölgewinnung aus dem Meer, 4 km soll z.B. vor der Küste Angolas in die Tiefe gebohrt werden, die ökologisch-ökonomischen Kosten werden dabei beiseitegeschoben.

Hemmungsloses Wirken

Auch die Gentechniker schauen die Natur unter dem Blickwinkel der Manipulation an, ohne sich über die Folgen im Klaren zu sein: Eine wunderbare Vielfalt, aber irgendwie komisch angeordnet. Warum sind Pflanzen da, warum Tier, warum Menschen und so fort. Die Zusammenstellung ist doch ganz ineffizient. Also machen wir das ein bisschen anders und schreiben alles um, weil wir glauben, wir seien viel gescheiter. Die Natur ist jedoch so gemacht, dass alles mit allem zusammenhängt. Man kann nicht etwas herausnehmen, ohne die Beziehung zum anderen zu stören. Die Gentechnologie will die existierenden Pflanzen ersetzen durch solche, die einen höheren Fruchtstand haben oder die effektiver sind. Uns ist die Natur, die sich ständig weiterentwickelt, mittlerweise zu langsam. Aber warum ist die Natur so langsam? Doch nicht, weil sie dumm ist, sondern weil sie bei jeder Änderung, die sie einführt, darauf wartet, inwieweit diese Änderung sich im Gesamtkontext bewährt oder nicht bewährt.

Aber wir, die Menschen, nehmen uns nicht die Zeit. Beispielsweise verändern wir die Nutzpflanzen, die wir haben. Dann stellen wir fest, die sind ja jetzt ungeheuer störanfällig. Also muss die chemische Keule her. Schließlich stellen wir fest, die chemische Keule hat unsere Böden ruiniert. Nun wollen wir das biotechnisch lösen. Wir gehen zwar mit etwas feineren Instrumenten heran, aber in Wirklichkeit sind die auch wieder nur Pfusch. Wir pfuschen da hinein, bevor wir überhaupt wissen, wie sich das insgesamt auswirkt.

Durch das hemmungslose Wirken des Menschen bahnen sich an vielen Stellen katastrophale Entwicklungen an. Wie immer schauen die meisten weg. Andere glauben voller Resignation, dass es kein Entrinnen mehr gibt. Ich habe Verständnis für dieses Bedürfnis nach Verdrängung im Gefühl der Ohnmacht und für diesen Pessimismus angesichts der bisherigen Geschichte der Menschheit. Aber beides entlässt uns letztlich nicht aus unserer Verantwortung. Denn wir alle tragen – insbesondere wir Naturwissenschaftler – zu dieser Entwicklung selbst bei. Obgleich wir Naturwissenschaftler mit unserem Tun die Welt täglich verändern, sprechen wir in der Mehrzahl immer noch von Erkenntnissuche, von faustischem Drang und von Befriedigung natürliche Neugierde, wir bezeichnen unser Tun als „Wissen“schaft, was eigentlich schon lange zur „Machen“schaft geworden ist. Verstehen und handeln sind für den Menschen selbstverständlich beide wichtig. Sie ergänzen und bedingen einander. Doch Machen erfordert Verantwortlichkeit von dem, der manipuliert, der Wissen ins Werk setzt, denn unsere Kräfte sind durch die Erfolge der Naturwissenschaft zu groß geworden, als dass die Natur unsere Stöße und Tritte noch abfedern, als dass sie unsere Missgriffe und Misshandlungen uns noch verzeihen kann.

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