Neue Denkräume gesucht

Die Naturwissenschaft hat uns tiefe Einblicke in die Struktur unserer Welt und ihre zeitliche Entwicklung verschafft. Sie hat dem absichtsvoll handelnden Menschen vielfältige Möglichkeiten eröffnet, Naturprozesse für seine Zwecke zu nutzen. Die auf diese Weise aufgewachsene Technik hat unsere Lebenswelt dramatisch verändert. Und dies, wegen der Ambivalenz der Zwecke, nicht nur zum Vorteil des Menschen, sondern auch zu ihrem Nachteil, wie dies für uns immer deutlicher wird. Naturwissenschaft und Technik haben der Menschheit eine ernste Existenzkrise beschert. Wir sind nicht nur in einer „Krise der Immanenz“, weil uns die unmittelbare Erfahrung verloren gehen könnte, als Menschen unauflösbar im Transzendenten verankert zu sein.

Wir stehen bereits schon mitten in einer zweiten Krise, welche die „Erschöpfung der Moderne“ genannt werden könnte. Diese zweite Krise lässt uns die Brüchigkeit und Unzulänglichkeit unserer heutigen säkularisierten, materialistischen Weltbetrachtung immer deutlicher gewahr werden. Die Krise besteht eigentlich darin, dass wir – und hier meine ich vornehmlich uns in der nördlichen, industrialisierten, sogenannten entwickelten Welt – in all der Üppigkeit und all dem Trubel unseres Alltags unter einem Hunger nach Geistigem und Sinnhaften, einem Gefühl von Verloren sein und Einsamkeit leiden. Mehr noch, dass uns die tieferen Ursachen unserer Frustration eigentlich gar nicht bewusstwerden und wir deshalb auch nicht bereit und willig sind, geeignete Nahrung aufzunehmen.

Der Widerstand, das im eigentlichen Sinne Vernünftige zu tun, resultiert aus einem falschen Verständnis oder mangelhaften Gebrauch unserer Rationalität. Die Rationalität stellt sich uns verengt dar als eine Fähigkeit, Wissen – exaktes Wissen, wie wir vielfach glauben – über die Wirklichkeit, die Welt, sammeln und kritisch denkend verarbeiten zu können, damit es sich zu einer besseren Steuerung unseres absichtsvollen Handelns eignet. Unsere heute immer noch ungebrochene Zuversicht, unser Leben und Handeln auf Rationalität in diesem eingeschränkten Sinne gründen, ja: ausschließlich gründen zu können – d.h. die andere Seite der Rationalität, die abwägende, wert-trächtige Vernunft nicht wesentlich einzubeziehen – basiert vornehmlich auf den eindrucksvollen Erfolgen moderner Wissenschaft, insbesondere den Naturwissenschaften, und den vielfältigen praktischen Umsetzungen dieses Wissens in Form unserer modernen Technik.

Undurchsichtige Komplexität

Wie so oft in unserer Geschichte kommen wir Menschen dabei immer wieder in die alte Versuchung: Gelingt es uns einmal, einen kleinen Zipfel der „Wahrheit“ zu erhaschen, dann meinen wir in diesem Zipfel gleich die einzige und ganze Wahrheit zu sehen. Wir betrachten das ganze Weltgeschehen nur unter dieser einen neuen Einsicht und zwängen, was nicht so recht passen will, mit Intelligenz, Schlauheit, Eloquenz, doch auch mit unbewusster oder bewusster Mogelei und Gewalt in dieses Korsett.

Dieser Impuls entspringt nicht nur unserer Dummheit und Ungeduld. Dahinter steht der verständliche und lebensdienliche Wunsch, die undurchsichtige Komplexität unserer Mitwelt auf etwas für uns Einfacheres und damit Einsehbareres, Überschaubareres zu reduzieren. Durch diese vereinfachten Vorstellungen der Wirklichkeit und ihrer eingeprägten zeitlichen Entwicklung gelingt es uns, die Unsicherheit des Zukünftigen, die wir ständig als existentielle Bedrohung empfinden und im nächsten Augenblick auch als dramatische, schmerzhafte, tödliche Realität erfahren und erdulden müssen, in vielen Details zu mildern. Ja, es hat sogar den Anschein, als ob wir unsere primitiven Nachbildungen der Wirklichkeit Schritt für Schritt so verbessern und verfeinern könnten, dass sie uns letztlich jegliche Unsicherheit zu beseitigen erlauben.

Doch immer genau zu wissen, was uns künftig erwartet, hätte kaum Vorteile für uns. Im Gegenteil: die eine große, umfassende Unsicherheit würde durch eine noch bedrückendere Gewissheit vielfältigen Scheitern abgelöst, wofür uns die Gewissheit einiger spärlicher Erfolge kaum entschädigen würde. Die Situation ändert sich jedoch grundlegend, wenn wir, was wir glauben, als Menschen wirklich – und nicht nur eingebildeter Weise – auch die Fähigkeit besitzen, absichtsvoll zu handeln. Dann haben wir prinzipiell die Möglichkeit, mit unserem Wissen und durch geeignetes Verhalten, die als sicher prognostizierten negativen Folgen zu vermeiden und unsere Überlebenschancen erheblich zu verbessern.

Wir können darüber hinaus durch bewusste Manipulationen unserer Mitwelt versuchen, die für uns erwünschten Folgen herbeizuzwingen. Wissen wird hierdurch zu einem Machtinstrument und lässt in uns die Hoffnung wachsen, durch fortschreitende Verfeinerungen unseres Verständnisses die Zukunft in immer höherem Maße meistern, beherrschen und letztlich „in den Griff“ bekommen zu können.

Macht durch Einfalt

In vielen Fällen, wenn auch meistens nur kurzfristig, scheint uns dies ja auch zu gelingen. Macht bezieht ihre Stärke aus der Einfalt – durch Bündeln von Kräften und nicht deren Differenzierung. Aber sie ist wegen dieser Einfalt vergänglich. Die momentanen Erfolge der „Wahrheitssuche“ verleiten zum Fundamentalismus. Das Körnchen Wahrheit wird unangemessen verabsolutiert. Wissenschaft und Technik im Verbund mit der Ökonomik stellen heute in gewissem Sinne so einen Fundamentalismus dar. Was können wir wirklich wissen? Wie steht wissenschaftliche Erkenntnis und unser naturwissenschaftlich fundiertes Wissen in Beziehung zu unserem spontanen Erleben, zu unserer allgemeinsten Erfahrung von Wirklichkeit, was immer wir darunter versehen wollen.

Durch die Erkenntnisse der modernen Physik stellen sich diese Fragen in einer überraschend neuen Weise. Eine prinzipielle Schranke wissenschaftlichen Wissens wird deutlich sichtbar. Nicht alles ist wissbar. Es gibt ein Wissen um prinzipielles Unwissen. Eine solche Beschränkung soll nicht nur negativ gewertet werden, denn Wissen ist nicht alles. Im Gegenteil, die prinzipiellen Grenzen des Wissens öffnen in unserer vorgestellten Wirklichkeit wieder Räume, die nur durch Glauben zugänglich sind, einem Glauben, der mehr bedeutet als ein Noch–nicht–wissen.

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