Lässt sich Zukünftiges prognostizieren?
Eine Prognose zukünftiger Folgen scheint besonders schwierig in der Grundlagenforschung, bei der Neuland betreten wird. Doch auch für die angewandte Forschung ist eine solche Prognose sehr kompliziert und nur in beschränktem Maße möglich. Jedenfalls wird eine genaue Prognose auch unter günstigsten Umständen – schon wegen der naturgesetzlichen bedingten prinzipiellen Grenzen nie möglich sein.
Daraus soll man jedoch nicht ableiten, wie dies oft geschieht, dass der Forscher deshalb für sein Tun keine Verantwortung übernehmen kann und auch keine Verantwortung trägt. Denn, um Verantwortung zu tragen, ist eine genaue Prognose nötig. Wichtig vor allem ist, dass der Forscher versucht, die ‚Topologie’ seines Forschungsgeländes auszuspähen, bevor er sich auf den Weg begibt.
Um im Bilde zu bleiben: auf einem Wiesenpfad in einem breiten, verschlungenen Gebirgstal zu gehen, birgt selbst bei relativer Unübersichtlichkeit des Geländes kaum Gefahren, im Gegensatz etwa zu einer Wanderung auf einem schmalen, steinigen Gebirgsgrat im Nebel oder bei Überquerung eines Lawinenhangs. Selbst eine solche gefährliche Gratwanderung könnte der Forscher und Techniker wagen, wenn die mögliche Folge nur sein eigener Absturz wäre, aber nicht, wenn dabei eine ganze Seilschaft – nämlich ganze Völker, zukünftige Generationen oder sogar die Menschheit als Gattung – mit in den Abgrund gerissen würde. Hier darf ein verantwortungsbewusster Forscher einfach nicht weitergehen, auch wenn für die Menschheit auf diesem gefährlichen Pfad einige „segensreiche Fortschritte“ winken und er mit größter Bedachtsamkeit versucht, das Absturzrisiko zu verringern. Er muss sich bei seiner Entscheidung immer an der ungünstigsten Prognose orientieren.
Die Topologie, die Gestalt eines Gebietes wahrzunehmen, verlangt, dass man dieses Gebiet, nicht nur als kurzsichtiger Spezialist abgetastet, sondern es gewissermaßen auch aus der Distanz in seiner Ganzheit betrachtet hat.
Unser Wissen ist heute in viele Einzeldisziplinen zerstückelt. Die jeweils nur noch ein Fachmann übersehen und „verstehen“ kann, wobei „verstehen“ meist nicht sehr viel mehr bedeutet, als dass dieser Fachmann mit seinem Gebiet mehr oder weniger vertraut ist, dass er sich darin, wie etwa in seiner Wohnung, bewegen und zurechtfinden kann. Das Wissen in seiner Gesamtheit, wie es durch die Wissenschaften vermittelt wird, ist deshalb für den einzelnen in diesem Sinne nicht mehr erfassbar und überschaubar.
Wir fühlen uns trotz großer Anstrengung von den ständig wachsenden Anforderungen an unsere Anpassungsfähigkeit überfordert. Wir helfen uns in dieser Notlage, indem wir aufgeben, alles geistig durchdringen und verstehen zu wollen. Stattdessen bauen wir „schwarze Kästen“ in unserem Denken ein, die wir – ähnlich wie Autos, Fernseher und Waschmaschinen – einfach durch Knopfdruck und Hebel bedienen, ohne ihre Wirkungsweise eigentlich zu verstehen. In dieser uns überfordernden Situation laufen wir Gefahr, dass uns die Wirklichkeit auf die Existenz der vielen Werkzeuge und technischen Hilfsmittel reduziert erscheint, mit denen wir uns so reichlich umgeben haben. Unsere hochdifferenzierte und synergetisch zusammenwirkende natürliche Mitwelt erschließt sich für uns nur noch durch die Vermittlung einer von uns selbst geschaffenen, einfältigen, mechanistisch strukturierten und funktionierenden Teilwelt. Diese primitive Teilwelt verstellt uns den Blick auf die weit vielfältigere und differenziertere eigentliche Wirklichkeit und isoliert uns von ihr.
Wie soll es uns heute gelingen, aus der Einzelbetrachtung von vielen verschiedenen Disziplinen wieder zu einer Gesamtbetrachtung zu kommen, welche die Voraussetzung darstellt, Verantwortung überhaupt wahrnehmen und übernehmen zu können. Was früher noch möglich war, wenn auch nur bei ganz außergewöhnlichen Begabungen, nämlich sich wenigstens noch einen groben Überblick über die wichtigsten Wissensinhalte anzueignen, dies ist heute auch für den gescheitesten Kopf bei der heutigen Faktenfülle gänzlich unerreichbar geworden. Bleibt uns also, so fragen wir uns, in dieser Zwangslage, in der sich unsere begrenzte Auffassungsgabe mit einem rasant steigenden Angebot an möglichem Wissen konfrontiert sieht, für uns dann nur die bittere Wahl, uns mit einem immer spezieller werden Fachwissen begnügen zu müssen. Das trennt uns immer weiter von unseren Mitmenschen, isoliert und als Individuum und verdammt uns letztlich zu einer umfassenden Sprachlosigkeit.