Mikro- und Mesowelt

Mikro- und Mesowelt

Was können wir wirklich wissen? Was ist prinzipiell nicht wissbar und muss deshalb unserem Glauben überlassen bleiben? Wie offen und willkürlich ist ein solcher Glaube? Diese Fragen haben nicht nur akademische Bedeutung. Angesichts der zunehmenden materialistischen Ausrichtung und spirituellen Verarmung unserer modernen Gesellschaft bekommen sie existentielle Bedeutung. Denn um absichtsvoll handeln zu können, benötigen wir als Menschen eine über das wissenschaftlich Messbare und analytisch Beweisbare hinausgehende Bewertung.

Konkret spiegelt sich dies in den heute vielfach diskutierten Fragen wider nach der ’Bedeutung ethischer Werte’ in der Realisierung des Machbaren und, im historischen Kontext, der Zukunft von Religion und Glauben in einer wissenschaftlich orientierten und dominierten Gesellschaft, einer Gesellschaft, die Wahrheit aus objektivierbaren Fakten und Prozessen bezieht. Eine solche Gesellschaft sollte meines Erachtens nicht als Wissensgesellschaft bezeichnet werden, denn Wissen wird erst durch Verständnis zum „verdauten“ Wissen, das nicht äußerlich, nicht objektivierbar ist, sondern in jedem von uns als ’erprobtes Erleben’ aufblüht.

Vom Atomphysiker zum Menschen: Einsichten und ihre Anwendbarkeit in unserer Welt

Als Physiker betrachte ich mich als aktiver Vertreter dieser wissenschaftlichen Welt. Als Mensch fühle ich mich dem Umfassenderen verbunden. Dies wird mir die Gelegenheit geben, noch einige Worte der Vorsicht gegenüber meiner vorgetragenen Darstellung einzuflechten, bei der ich mich in der notwendigen Straffung allzu großzügig über wesentliche kritische Feinheiten hinweggesetzt habe. Die Hauptkritik richtet sich vor allem auf die Frage, inwieweit die tiefen Einsichten eines Atomphysikers, die er in seiner Mikrowelt gewonnen hat, sich überhaupt eignen, auf uns als Menschen und unsere Lebenswelt anwendbar zu sein. In der Tat: Diese Strukturen der Mikrowelt spielen, wie es scheint, in der, räumlich gesprochen, viel größeren Mesowelt, in der wir leben, praktisch keine Rolle. Denn wir wissen doch aus unserem Alltag, dass die Approximation einer objektivierbaren Materie, ihre Auftrennbarkeit, Unterschiedlichkeit, Unabhängigkeit ausgezeichnet funktioniert. Auf ihr basiert ja unsere langjährig erprobte und höchst erfolgreiche Technik.

Grob betrachtet ist dies zweifellos richtig. Die Mikro-Gesetzlichkeit hat es schwer, erkennbar bis in die Mesowelt vorzudringen. Das liegt daran, dass sich in Objekten unserer Mesowelt eine riesig große Zahl, Billionen mal Billionen, dieser exotischen Mikro-Wesenheiten tummeln, die keine winzigen Teilchen mehr sind, sondern – als Elemente einer „Wirkung“ oder von „Was passiert!“ – besser: „Wirks“ oder „Passierchen“ genannt werden sollten. Das lebendige, offene Spiel der Unterstrukturen mittelt sich deshalb einfach in der Regel vollständig heraus.

Entropie und das Rätsel von Ordnung und Unordnung in der Natur

Unsere Mesowelt ist also eine statistisch ausgemittelte Mikrowelt. Dass diese Ausmittelung so vollständig gelingt, liegt wesentlich am sogenannten ’Entropiesatz’, dem ‚Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik’. Im Grunde drückt er nur das für uns Offensichtliche aus, dass ’in Zukunft das Wahrscheinliche wahrscheinlicher passiert’. Dies hat jedoch die wesentliche Folge, dass in einem sich selbst überlassenen System in der Regel jede Besonderheit, jedes Ausgezeichnetsein im Laufe der Zeit zerstört wird und sich in Unordnung auflöst. Das können wir täglich an unserem Schreibtisch beobachten. Aus einem uns unverständlichen Grunde wird er immer unordentlicher und nie ordentlicher. Deshalb verstehen wir nicht, wie es in einer Natur mit diesem, ihrem starken Hang zu Unordnung überhaupt kommen kann, dass bei der Evolution so hochdifferenzierter Systeme, wie uns Menschen oder die vielfältigen Organismen des Biosystems, die Unordnung sich nicht durchsetzt. Hat die Natur für ihren lebendigen Teil nicht doch eine Ausnahmeregelung zum 'Entropiesatz' bei einer höheren Instanz erwirkt?

Nach heutiger Einsicht scheint es keine solche Ausnahmeregelung zu geben. Die unbelebte und die belebte Natur basieren auf derselben Art von immaterieller Wesenheit, die im Grunde, wie uns die moderne Physik lehrt, keine Materie mehr ist und einer viel offeneren und gewissermaßen „lebendigen“ Dynamik folgt. Aber diese lebendigen Wesenheiten, die „Wirks“, können sich auf verschiedene Art organisieren.

Von unbelebter Materie zu lebendiger Struktur: Die Organisation der "Wirks"

Einmal geschieht die Organisation ganz ungeordnet und unkorreliert. Dann wird das resultierende Gesamtsystem stumpf, langweilig und apathisch. Es trägt die Züge der unbelebten, sturen Materie. Wir schätzen diese geronnene Form, diese Schlacke, wegen ihrer Verlässlichkeit. Wir schätzendie Materie wegen ihrer steten Bereitschaft sich von uns widerspruchslos manipulieren zu lassen. Sie dient uns als Werkzeug und Baustoff. Und das schätzen wir: Etwas Verlässliches, das uns bedingungslos gehorcht, das keinen eigenen Willen entwickelt.

Aber wenn sich diese immateriellen „Wirks“ auf raffiniertere Weise zu einem geordneten, differenzierten Gesamtsystem formieren, dann können Strukturen entstehen, in denen das im Grunde embryonal Lebendige auch in der Mesowelt zum Ausdruck kommt und zum lebendigen Organismus wird. Die eingeprägte Potenzialität wird makroskopisch sichtbar. Dazu braucht es aber eine enorme Verstärkung. Das Gesamtsystem muss weit weg von seinem Gleichgewichtszustand sein, es muss hoch empfindlich sein, um ein Ausmitteln seiner inneren Lebendigkeit zu vermeiden. Auf diese Weise kann sich die eingeprägte Lebendigkeit auch äußerlich manifestieren.

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