das neue Weltbild

Eine neue Sichtweise wurde durch die revolutionären Entdeckungen in der Physik am Anfang des 20. Jahrhunderts und die dadurch notwendige radikale Neuinterpretation der Grundlagen der Physik in den 20iger Jahren durch Niels Bohr und Werner Heisenberg ausgelöst. Erstaunlich ist dabei, dass dieser tiefgreifende Wandel in unserem Verständnis der Wirklichkeit auch heute noch, fast genau hundert Jahre nach den bahnbrechenden Arbeiten von Max Planck und Albert Einstein, in unserer Gesellschaft und ihren Wissenschaften kaum philosophisch und erkenntnistheoretisch nachvollzogen worden ist.

Und dies nicht etwa aufgrund eines Versagens der neuen Vorstellungen. Im Gegenteil, die Quantenphysik, welche diese neue Entwicklung bezeichnet, hat in den letzten siebzig Jahren seit ihrer Ausdeutung einen beispiellosen Triumphzug durch alle Gebiete der Physik angetreten und sich bis zum heutigen Tage unangefochten bewährt. Sie ist es ja, die vor allem in der Folge die ungeahnten technischen Entwicklungen angestoßen hat, die unserem Zeitalter, zum Guten oder Schlechten, unverkennbar ihren Stempel aufgedrückt haben. So wäre die moderne Chemie, die Atomkerntechnik und die modernen Informationstechnologien ohne die neuen Einsichten nicht möglich gewesen. Obwohl alle diese vielfältigen, erstaunlichen und gewaltigen Konsequenzen wissenschaftlich akzeptiert wurden, so fühlt sich auch heute noch die Wissenschaft in gewisser Hinsicht überfordert, gleichzeitig die in hohem Maße überraschenden Vorstellungen zu übernehmen, aus denen die neue Physik eigentlich erst verständlich wird.

Dies hat viele Gründe. Allen voran: Der Bruch, den die neue Physik fordert, ist tief. Er bezeichnet nicht nur einen Paradigmenwechsel, wie dies von Thomas Kuhn in seinem Buch „The Structure of Scientific Revolutions“ 1962 beschrieben worden ist. Deutet diese neue Physik doch darauf hin, dass die Wirklichkeit im Grunde keine Realität im Sinne einer dinghaften Wirklichkeit ist. Wirklichkeit offenbart sich primär nur noch als Potenzialität, als ein „Sowohl/Als-auch“, also nur als Möglichkeit für eine Realisierung in der uns vertrauten stofflichen Realität, die sich in objekthaft und der Logik des „Entweder-Oder“ unterworfenen Erscheinungsformen ausprägt. Potenzialität erscheint als das Eine, das sich nicht auftrennen, grundsätzlich nicht zerlegen lässt. Auf dem Hintergrund unserer gewohnten, durch das klassisch physikalische Weltbild entscheidend geprägten Vorstellungen klingt dies ungeheuerlich, eigentlich unannehmbar.

Vieldeutige Wahrheiten

Fast hat es den Anschein, als ob die großen Probleme unserer Zeit teilweise darin begründet liegen, dass wir in den Gesellschaftswissenschaften, in der Politik wie in der Wirtschaft, noch immer versuchen, mit den veralteten Vorstellungen des 19. Jahrhunderts die neuen Kräfte zu bändigen, die uns aufgrund der ganz andersartigen Einsichten im 20. Jahrhundert zugewachsen sind. Diese Erkenntnis wäre noch kein Grund zur Beunruhigung, wenn es nur darum ginge, nun einfach geduldig abzuwarten, bis die neuen Vorstellungen auch in den Gesellschaftswissenschaften und in unserem politischen Alltag eingedrungen sind.

Doch die zeitweilige Unfähigkeit, unser Handeln mit dem angemessenen Denken in Einklang zu bringen, könnte angesichts der entfesselten Einwirkungspotentiale die Menschheit leicht aus der Evolution des Lebendigen hinauskatapultieren.

Dabei wäre das sich langsam herauskristallisierende, neue naturwissenschaftliche Weltbild in hohem Maße geeignet, die verschiedenen Wissenschaftszweige – so die Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften – wieder enger zusammenzuführen. Es erlaubt Glaube und Wissen, Religion und Wissenschaft als wesentliche und in gewisser Weise komplementäre Elemente einer umfassenden Sichtweise zu verstehen. Der Glaube wird von seiner Lückenbüßerrolle befreit, in der ihm jeweils nur noch überlassen bleibt, was bis zu diesem Zeitpunkt „noch nicht gewusst“ wird. Das Wissbare erfährt in der neuen Weltsicht eine prinzipielle Einschränkung. Dadurch erhält der Glaube wieder seine volle Bedeutung und eigenständige Wertigkeit zurück.

Über die Wahrheit Glaube und Wissen sind beide auf „Wahrheit“ gerichtet. Wahrheit bedeutet jedoch in beiden Fällen etwas anderes. In der neuen Sichtweise wird es in gewisser Weise keine dieser Wahrheiten mehr geben, sondern eine „offenere, vieldeutige Wahrheit“ wird an ihre Stelle treten, die in subtiler Weise beide enthält. Ich spreche als Naturwissenschaftler, als Physiker, Elementarteilchenphysiker. Ein Naturwissenschaftler analysiert, zerlegt, fragmentiert, um die Wahrheit zu finden – und landet deshalb notwendig beim Allerkleinsten.

Auch der Gläubige sucht nach Wahrheit. Er sucht sie in der Religion. Er nähert sich ihr in kontemplativer Haltung, in der meditativen Versenkung, erlebt sie in der Öffnung zum Ganzen. Die Wahrheiten des Wissenschaftlers und des Gläubigen sind verschieden, und doch versuchen sie Antworten auf letztlich dieselben Fragen. Sie spiegeln in gewisser Weise nur unsere doppelte Beziehung zur Wirklichkeit wider. Das die Welt beobachtende helle Ich-Bewusstsein, einerseits, und das dunkle, mystische Erlebnis der Einheit, andererseits, charakterisieren komplementäre Erfahrungsweisen des Menschen.

Die eine führt zu einer kritisch-rationalen Einstellung, in welcher der Mensch die Welt in ihrer Vielfalt – fast im wörtlichen Sinne – begreifen, sie mit dem eigenen begrifflichen Denken erfassen will. Die andere erschließt sich ihm in einer mystischen Grundhaltung, in der er durch Hingabe und Meditation unmittelbar zum eigentlichen Wesen der Wirklichkeit vorzudringen versucht. Komplementär bedeutet hier: Dass beide möglich sind und sich gleichzeitig ergänzen und ausschließen, wie „Raumerfüllung“ und „Zwischenraum“ oder im bekannten Vexierbild die „beiden zugewandten Schattenprofile“ zu der zwischen ihnen aufgespannten „Vase“. Es sind zwei Arten des „Wissens“, das „begreifbare Wissen“ und die „Gewissheit um den inneren Zusammenhang“, die „Außenansicht“ mit der Trennung von Beobachter und dem Beobachteten, und die „Innensicht“, oder besser fließend: das „Innensehen“, die dem Wesen nach immer holistisch ist, wo das Wahrnehmende auch gleichzeitig das wahrgenommene ungetrennte Eine ist.

Innen und Außen

Erfahrung meint beides: Außenansicht und Innensehen. Das Innensehen ist „näher, inniger, weiter, umfassender, offener, ganzheitlich“, wobei diese aus der Außenansicht entlehnten Worte in ihrer strengen Begrifflichkeit ganz unangemessen sind. Metaphorisch verstanden können sie jedoch auf eine Innenerfahrung deuten. In der Außenansicht nehmen wir die Welt um uns herum, unsere Mitmenschen und uns selbst auf eine äußerliche Weise wahr. Die Außenansicht ist lebensdienlich, der greifenden Hand angepasst, die wiederum sich an der speziellen Struktur der Lebenswelt entwickelt hat, in die wir existentiell eingebettet sind.

Handeln ist zweiwertig: ich greife oder ich greife nicht, ich habe oder ich habe nicht. Das eine schließt das andere aus. So auch unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit: Sein oder Nichtsein. Unser fragmentierendes Denken, unsere begriffliche Sprache hat sich in dieser auf Handlung orientierten Welt herausgebildet. Deshalb auch zweiwertig unser Denken: richtig oder falsch, „tertium non datur“, unsere zweiwertige Logik: ja oder nein. Dieses zweiwertige Ordnungsschema braucht jedoch nicht der Struktur der eigentlichen Wirklichkeit zu entsprechen, sondern ist zunächst für uns lebensdienlich in dem Sinne, dass es ein für unser Überleben wichtiges Handeln wirksam unterstützt.

Doch ist äußere Erfahrung letztlich wieder nur als inneres Erfahren, durch spontane Evidenz spürbar. Auch dort nur Gewissheit, wenn es in mir tönt: Es ist so! Ja, ich habe verstanden! Es gibt nichts, was durchgängig bewiesen werden kann, nichts Greifbares, sondern alles mündet am Ende in unmittelbares Erleben, das ich durch Identifizierung, als Bewegung meines Selbst, schlicht außerhalb allem Dualismus, als wahr erlebe.

Das unauftrennbare Innensehen erlaubt keine zweiwertige Unterscheidung. Es gibt kein Wissen, doch auch kein Unwissen. Vielleicht Weisheit, die über beiden schwebt, als unscharfer Abdruck des äußeren Wissens im Innern. Und mit einer Unschärfe, die sich nicht im Mangel an Schärfe erschöpft, sondern erst die Möglichkeit eröffnet, Gestalt wahrzunehmen: Vertrautheit, Sinnhaftigkeit, Wertordnung. Unsere Vorstellung von der Wahrheit ist durch die Polarität der Außenansicht deformiert: Wahr oder nicht wahr?

Wahrheit ist allgemeiner, sie braucht nicht unbedingt diese lebensdienliche Zweiwertigkeit. Wahrheit kann offener sein, sich auch in einem Sowohl/Als-auch verdeutlichen, ohne dabei ihre Gewissheit einzubüßen. Es fehlt uns die Sprache, dies ausdrücken zu können, da Sprache primär der Außenansicht zugeordnet ist. Wir ahmen dieses Sowohl/Als-auch nach, indem wir, wie mit dem Finger darüberstreichend oder mit offenen Händen erfühlend, seine „Gestalt“ punktweise zu ertasten suchen. Das ganzheitliche Sowohl/Als-auch erscheint dann in unserer kritisch rationalen Vorstellung als vielfältige, nebeneinander liegende Entweder/Oders, deren Synthese die Gestalt imitiert ohne je ihre Ganzheit ausfüllen zu können.

In der abendländischen Geschichte stehen die beiden unterschiedlichen Grundhaltungen, der Außenansicht und dem Innensehen, in einem fruchtbaren Wechselspiel. Sie spiegeln sich in der Spaltung von Wissen und Glauben. Der Rationalismus und später die Aufklärung haben diese Spaltung vertieft und die zweiwertige Außenansicht zur einzig wahren, d.h. der Struktur der Wirklichkeit angemessenen Ansicht erklärt. Die Außenansicht ist die Basis unserer triumphierenden Wissenschaft. Sie hat uns gelehrt unsere Mitwelt zu unserem eigenen Nutzen zu manipulieren und Wissen als Machtinstrument zur Herrschaft über Mensch und Natur systematisch zu entwickeln. Wissen wurde Mittel zur Macht und nicht mehr Quelle der Weisheit. Die Ausschließlichkeit unseres Denkens: „Wenn das Eine richtig ist, kann nicht das Entgegengesetzte auch richtig sein, also muss es falsch sein“ hat viel Zank und Streit verursacht, vernichtende Kriege entfesselt und ungeheures Leid über die Menschen gebracht.

Die moderne Physik hat uns gelehrt, dass die Struktur der Wirklichkeit im Grunde eine ganz andere ist, als es die an unserem Handeln und Wissen entwickelte, dominante zweiwertige Struktur, der uns direkt zugänglichen Lebenswelt suggeriert. Die von uns als allgemeingültig erachtete zweiwertige Außenansicht hat nur begrenzte Gültigkeit. Sie ist nur vergröbertes Abbild einer tieferen Wirklichkeit, deren Züge sich uns getreuer durch Innensehen offenbaren.

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