Die ordnende Hand
Die ordnende Hand
Stellen Sie sich ein physikalisches Pendel vor: ein herabhängender, beweglicher Stab mit einem Gewicht unten. Es pendelt beim Anstoßen vorhersehbar und berechenbar um seine untere stabile Gleichgewichtslage. Drehe ich jedoch Stab und Gewicht weit weg vom unteren stabilen Gleichgewicht in die oberste Lage, so gibt es dort eine weitere Gleichgewichtslage, die aber instabil ist. Wir wissen nicht, ob das Pendel auf die eine oder andere Seite herunterfallen wird.
In diesem Instabilitätspunkt kann das System die inhärente Lebendigkeit sichtbar werden lassen, weil es von winzig kleinen Störungen abhängt, ob es zu dem einen oder anderen Bewegungsablauf veranlasst wird. Das ist nur ein primitives Beispiel. Die Naturwissenschaft kennt viele Systeme mit solchen eingeprägten Instabilitäten. Sie führen zu einem, wie man sagt, „chaotischen“ Bewegungsverhalten. Kleine Veränderungen in den Ursachen bewirken hier extreme Unterschiede in den Folgen: Der Schlag eines Schmetterlingsflügel, kann einen Taifun auslösen!
Das Gleichgewicht des Lebens: Energie, Intelligenz und die Kraft der Ordnung
Leben – belebte makroskopische Organismen – erfordern sensible Strukturen, eingebaute Instabilitäten. Aber Instabilitäten kippen. Um sie lange in der prekären Balance zu halten, müssen sie dauernd nachjustiert, also dynamisch stabilisiert werden. Dies erfordert eine „intelligente“ Zuführung von Energie. Diese Systeme brauchen ständig eine „unterscheidende und entscheidungsfähige, ordnende Hand“. Diese Situation steht also nicht im Widerspruch zum 'Entropiesatz', der dominanten Tendenz zur Unordnung. Denn es ist ja auch unsere ordnende Hand, die am Wochenende unseren Schreibtisch immer wieder in Ordnung bringen kann. Dazu ist (arbeitsfähige) Energie nötig – sie wird von der Hand gereicht. Aber die Hand darf dabei nicht nur „herum werkeln“, sie muss auch darauf achten, was sie tut, sie muss intelligent sein, denn sonst beschleunigt sie nur den Prozess zur Unordnung.
Lebendige Systeme brauchen deshalb Nahrung, gespeicherte Sonnenenergie, doch auch auswählende Intelligenz, eine „geistige“ Führung, die prinzipiell im immateriellen Form-Grund verankert ist und sich in der Milliarden Jahre langen Evolution des Biosystems durch ein Plus-Summen-Spiel in komplexen Verästelungen immer höher differenziert hat. Die von der Sonne zugestrahlte hochgeordnete Energie ist letztlich der Motor für die Entwicklung des Lebens auf der Erde. Sie wird aber nur zu einer ordnenden Hand, wenn ihre Energie sich von der kreativen Potenzialität im Hintergrund leiten lässt, die vermöge von Instabilitäten in die Mesowelt durchstoßen können.
Die ökologische Krise und unser Verhältnis zur holistischen Potenzialität der Natur
Unsere heutige ökologische Krise hängt wesentlich damit zusammen, dass wir diesen tieferen Zusammenhang nicht würdigen. Wir lassen uns immer noch von der veralteten Vorstellung leiten, wir als geist-begabte Menschen stünden außerhalb einer rein materiellen Natur, die für uns nur Werkzeug, Steinbruch und Müllkippe ist. Wir verkennen, dass wir ein „Teil“ eines gemeinsamen, größeren komplexen Systems sind und auf hochsensible Weise in dieses eingebunden sind. Dieses größere komplexe System basiert auf einer unauftrennbaren Potenzialität, die für uns „unbegreiflich“ bleibt. Potenzialität bietet aber die Möglichkeit in „Teilen“ zu Realität zu gerinnen und zu dem zu führen, was wir in unserer Außenansicht und mit unseren Sinnen als äußere Schöpfung wahrnehmen. Hat nicht diese holistische Potenzialität, diese unauftrennbare, wollende Ur-Lebendigkeit, der ich mich nur durch Innensehen nähern kann, eine tiefe Verwandtschaft zu dem Göttlichen, von dem die Religionen zu sprechen versuchen? Der Schöpfer ist mit dem dynamischen Urverbund der Wirklichkeit identisch. Aber, was wir gewöhnlich als Schöpfung durch Außenansicht erfahren, ist nur die materiell-energetische Schlacke dieser geistigen, wesentlich offenen Urdynamik, deren Sinnhaftigkeit wir durch unser Eingebundensein sehr wohl ahnen, aber nicht begreifen können.
Wissenschaft und Religion: Eine komplementäre Suche nach dem Unbegreiflichen
Wissenschaft und Religion sind in diesem Bilde versöhnt. Nicht nur die Religionen, sondern auch die Wissenschaft müssen bescheiden zur Kenntnis nehmen, dass sie die „eigentliche“ Wirklichkeit im Urgrund nicht ausreichend und angemessen beschreiben, sondern nur mithilfe von Gleichnissen deuten können. Entsprechend ihrer jeweiligen beschränkten Wahrnehmung und in der ihnen zugänglichen Sprache entwerfen sie gleichsam „Karikaturen“ von dieser unbegreiflichen Welt, in der nichts existiert, sondern alles einem „Dazwischen“, einer unbegrenzten Verbundenheit entspringt. Es lohnt bei Karikaturen nicht, sich über ihre Unterschiedlichkeit zu streiten. Sie sind alle nur Gleichnisse, die uns helfen sollen, uns an das zu erinnern, für was sie als Gleichnis stehen: das Unbegreifliche, das schon als Ahnung in uns dämmert und durch unser Innensehen beleuchtet wurde. Gleichnisse sind wie kurze Tonfolgen, die plötzlich in uns vergessene altbekannte Lieder erklingen lassen.
Wissenschaft und Religion sind ihrer Wahrnehmung nach komplementär. Es ist wie die Komplementarität zwischen Exaktheit und Relevanz. Wer die Exaktheit übertreibt, muss notwendig dazu abtrennen und isolieren. und verliert dadurch den Kontext, der für die Orientierung und die Bewertung der Relevanz nötig ist. So sind Wissenschaft und Religion nicht nur zur Versöhnung aufgerufen, sondern auch dazu, sich immer auch ihrer komplementären Rollen bewusst zu bleiben, die einander notwendig bedürfen. Objektive, blind–blinde Untersuchungen sind erforderlich für exakte Feststellungen und präzise Manipulationen. Sie sind jedoch wegen der holistischen Struktur der Wirklichkeit nur beschränkt möglich. Es ist der offene, intensiv-empathische, inter-subjektive Dialog zwischen Menschen, der ergänzend notwendig ist. Er erlaubt uns, das zunächst nur subjektiv-erlebte Unbegreifliche gemeinsam auszuloten, und vermöge unserer gemeinsamen Bindung, der ‚Religio’, eine Wertung zu ermöglichen, eine Bewertung, die ,Willkürlichkeit’ verbannt, aber letztlich unscharf bleiben muss . Denn die äußere Welt, in der wir leben ist offen, mehr: sie will sich weiter öffnen, sie will gestaltet, sie will lebendiger werden.