Folgen des eigenen Tuns

Verantwortung bedeutet vereinfacht: persönliche Bürgschaft für ursächliches Handeln, wobei gelegentliches Nicht-Handeln als mögliche verantwortliche Haltung selbstverständlich mit inbegriffen ist. Eine Bejahung der Verantwortung des Wissenschaftlers für sein Tun scheint also zunächst zweierlei vorauszusetzen:

  1. Der Forscher muss wirklich in der Lage sein, die Folgen seines Tuns voraussehen zu können. Denn ursächliches Handeln bedeutet doch, dass bestimmte Wirkungen in der Zukunft sich von dem Forscher genau antizipieren lassen, oder umgekehrt, wenn die Wirkungen einmal eingetreten sind, sich diese auf seine vorherigen Handlungen schlüssig zurückführen lassen. Dafür muss der Forscher auch wirklich frei sein, seine Handlungen hinlänglich zu bestimmen, für die er Verantwortung übernehmen soll. Es muss allgemein verbindliche Wertmaßstäbe geben, mit Hilfe derer der Forscher seine Handlungen als mehr oder weniger vernünftig oder unvernünftig, nützlich oder schädlich, gut oder böse einstufen kann.
  2. Und dann muss der Wissenschaftler wirklich selbst für die negativen Folgen in einer für ihn relevanten Weise zur Rechenschaft gezogen werden.

Es ist offensichtlich, dass alle diese Voraussetzungen nur in den seltensten Fällen ausreichen erfüllt sein werden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass viele – und darunter vor allem die Naturwissenschaftler selbst – kategorisch verneinen, dass es eine besondere Verantwortung des Naturwissenschaftlers gibt, die über das an Verantwortung hinausgeht, was von jedem anderen Menschen auch verlangt wird.

Gibt es ein Wissen ohne Wertung?

Die Wissenschaftler werden nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, dass Wissenschaft letztlich wertfrei sei und dass ihre Ergebnisse, wie jegliches Wissen, erst durch die praktische Handhabung und die gesellschaftliche Umsetzung eine Bewertung erfahren, denn erst durch die Umsetzung werde ihr Schaden oder Nutzen für den Menschen evident. Wissenschaft, so wird deshalb gefolgert, müsse ganz allgemein und bedingungslos gefördert werden, denn mehr wissen bedeute immer auch mehr Einsicht, mehr Verständnis, bessere Orientierung und höhere Erkenntnis. Eine Wertung erfolge hierbei nur unter dem Kriterium „richtig oder falsch“, im Sinne einer Stimmigkeit oder Selbstkonsistenz. Und diese Wertung gelte uneingeschränkt, da sie wesentliche Bestandteil jeglicher Wissenschaft sei.

Eine Bewertung in Bezug auf die Bedeutung für den Menschen, die menschliche Gesellschaft, die Biosphäre, unsere Mitwelt, die Schöpfung insgesamt, stellt sich also nur, so meinen sie, bei der Anwendung dieses Wissens, das heißt bei der absichtsvollen Auswahl und Präparation spezieller Anfangs- und Randbedingungen, die geeignet sein sollen, die von den Wissenschaftlern aufgedeckte Naturgesetzlichkeit zu ganz bestimmten, von uns angestrebten Folgen zu zwingen. Die Anwendung wissenschaftlicher Kenntnisse und die Bewertung, die sie als gut und vernünftig ausweist, erscheint bei dieser Sichtweise nicht als Aufgabe der wissensvermittelnden und wissenschaftsfördernden Institutionen, wie etwa der Universitäten und Forschungsinstitute, sondern diese Bewertung sollte durch die Betroffenen und Nutznießer, durch die ganze Gesellschaft und ihre Politiker als die sie legitimierten Repräsentanten erfolgen. So überzeugend die Argumentation erscheint, so halte ich sie trotzdem für falsch. Denn es gibt kein Wissen ohne Wertung. Eine Wertung des Wissens geschieht auf doppelte Weise, nämlich in einem grundsätzlichen und einem mehr praktischen Sinne.

„Stempel“ unseres Denkens

Zunächst etwas zur grundsätzlichen Wertung. Es gibt wohl so etwas wie eine wertfreie Wissenschaft, aber diese ist ein Begriffsgebäude, das zunächst nichts mit der eigentlichen Wirklichkeit, von der Wissenschaft angeblich handelt, zu tun hat. Jede die eigentliche Wirklichkeit interpretierende Wissenschaft muss letztlich, um relevant zu sein, aus ihrem logisch strukturierten und –bei den Wissenschaftlern – mathematisch präzisierten Begriffsgebäude heraus und die Brücke zur eigentlichen Wirklichkeit, was immer wir darunter verstehen wollen, schlagen, und dies kann nicht ohne eine wissenschaftlich nicht mehr beweisbare, da aus dem Gebäude herausführende Wertung erfolgen.

Diese Feststellung hat nicht nur akademische Bedeutung. Die moderne Naturwissenschaft hat uns gelehrt, dass es eine objektivierbare Wirklichkeit, eine aus unzerstörbaren Einheiten bestehende dingliche Realität eigentlich gar nicht gibt. Was wir als Wirklichkeit erfahren, hängt wesentlich von der Methode ab, mit der wir die Wirklichkeit ausforschen und traktieren. Die naturwissenschaftliche Wirklichkeit trägt immer den Stempel unseres Denkens, sie ist geprägt durch die Art und Weise, wie Teile durch unser Denken aus dem Gesamtzusammenhang herausgebrochen wurden. Jedes Wissen, das wir begrifflich fassen, bedeutet deshalb Wertung. Die Wirklichkeit, die wir durch unser begriffliches Denken und insbesondere durch Naturwissenschaft erfassen können, ist nicht die ganze Wirklichkeit, die wir prinzipiell erfahren können. Wirklichkeit ist weit mehr als dingliche Realität.

Wissen ohne Wertung?

Wenn wir uns die Frage stellen, ob Wissen ohne Wertung möglich ist, so denken wir gewöhnlich jedoch nicht an diesen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Wissen und Wertung, sondern betrachten diese Frage im Rahmen einer streng objektivierbaren und prinzipiell prognostizierbaren Welt. Die Wertung von Wissen stellt sich hier in einem praktischen Sinn. Sie hängt wesentlich davon ab, inwieweit Wissen zum Ausgangspunkt von Handlungen wird, Wissenschaft sich als ‚Machen’schaft, als angewandte Wissenschaft versteht.

Die Unterscheidung zwischen angewandter Wissenschaft und Grundlagenwissenschaft hat eine gewisse Berechtigung durch die bei der Erforschung verwendete Methode, aber im Hinblick auf die Bewertungsfragen und der mit diesen zusammenhängenden Fragen nach einer besonderen Verantwortung der Wissenschaftler für ihr Tun ist diese Unterscheidung zu ungenau. Bei der Wertungsfrage kommt es weniger auf die Methode als auf die Motive an. Wissenschaft hat im Wesentlichen zwei unterschiedliche Motive: sie möchte etwas erkennen und wissen – die eigentliche Wissenschaft -, aber sie möchte auch etwas machen, sie möchte manipulieren und verändern.

Traditionell versteht sich Wissenschaft im Sinne des ersten Motivs, als ein Teil der Philosophie, der es primär um Erkenntnis und Wahrheit geht. Diese Betrachtungsweise bestimmt auch heute noch weitgehend das Selbstverständnis eines Wissenschaftlers an Universitäten und Forschungsinstituten. Die tatsächliche Situation scheint dies jedoch kaum mehr zu rechtfertigen – wenigstens in der Naturwissenschaft. Die eigentliche Beschäftigung der Naturwissenschaft hat vielmehr direkt oder indirekt mit dem zweiten Motiv zu tun, wie sie insbesondere in der Technik zum Tragen kommt. Hier ist Wissen nicht mehr primär ein Promotor von Erkenntnis, von Einsicht und Weisheit, sondern Wissen wird hier zum know-how, zu einem Zweckwissen und zu einem hochpotenten Mittel der Macht.

Notwendigkeit einer Wertung

Die besondere Hervorhebung der absichtsvoll handelnden Wissenschaft in diesem Zusammenhang soll nicht bedeuten, dass die auf reine Erkenntnis ausgerichtete Wissenschaft auf eine Bewertung verzichten kann. Dies ist nicht der Fall, denn die Grenzen zwischen erkenntnistheoretischer und anwendungsorientierter Wissenschaft sind äußerst verschwommen. Die erkenntnisorientierte Wissenschaft ist ja heute kaum mehr eine passiv betrachtende Wissenschaft, sondern eine experimentelle Wissenschaft, die unter höchstem technischem Aufwand der Natur ihre tiefsten Geheimnisse abzupressen versucht. Die anwendungsorientierte Forschung andererseits verlangt in hohem Maße eine gründliche und detaillierte Untersuchung von bestimmten Teilphänomenen, die in der üblichen Betrachtung zur Grundlagenforschung gerechnet wird und als solche sich methodisch kaum von der erkenntnisorientierten Forschung unterscheidet.

Mit einer Aufgliederung der Wissenschaft in eine erkenntnisorientierte und eine anwendungsorientierte Richtung soll hierbei unterschwellig keine Bewertung vorgenommen werden, etwa in dem Sinne, dass erkenntnisorientierte Forschung gut und anwendungsorientierte Forschung schlecht und deshalb nur die erstere betrieben werden sollte; oder auch im umgekehrten Sinne, dass etwa erkenntnisorientierte Forschung als l’art pour l’art von Universitäten und Forschungsinstitutionen verbannt und nur noch gesellschaftlich-relevante angewandte Forschung betrieben werden sollte. Die beiden Zweige der Wissenschaften entsprechen nur zwei andersartigen Anliegen unserer menschlichen Gesellschaft. Die erkenntnisorientierte Wissenschaft hat philosophisch-kulturelle Bedeutung, ähnlich wie die Religion oder die Künste. Sie ist für das Zusammenleben der Menschen und die gesellschaftlichen Strukturen unentbehrlich. Die anwendungsorientierte Wissenschaft hat dagegen zum Ziel, die äußeren Lebensbedingungen des Menschen zu „verbessern“, was immer wir darunter verstehen wollen, oder wenigstens diese nicht schlechter werden zu lassen. Die Notwendigkeit einer Wertung von Wissenschaft wird für die Gesellschaft jedoch umso wichtiger, je mehr sie sich vom Wissen zum Machen verlagert. Aber hier kommen wir auf den ersten Punkt der Voraussetzungen für ein verantwortliches Handeln eines Naturwissenschaftlers zurück, inwieweit er nämlich in der Lage ist, zukünftige Folgen seines Tuns erfolgreich prognostizieren zu können.

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