Neue Grenzen der Freiheit
Die rechtliche Verfassung unserer Gesellschaft nimmt die natürliche Mitwelt des Menschen als wesentliches Lebensgut nicht wahr. Es erscheint hier dringend geboten, die Freiheit des Menschen einzuschränken und sie stärker an eine entsprechende Verantwortung zu binden. Dies soll nicht heißen, dass eine Harmonisierung zwischen ökonomischen und ökologischen Forderungen durch dirigistische Maßnahmen – etwa durch das Instrumentarium eine Ökodiktatur, die keiner will und wollen kann – wirkungsvoll erreicht werden kann. Im Gegenteil: Die Natur lehrt uns eindrücklich, dass nur dynamische, nach dem Prinzip von „Versuch und Irrtum“ über Selbstorganisation sich einstellende Ordnungsstrukturen den hohen Grad an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit erreichen können, die zur effizienten Erfüllung der komplexen äußeren Anforderungen und Aufgaben notwendig sind.
Gefragt ist vielmehr eine rechtliche Verfassung, die auf allen Ebenen rechtlichen Handelns – Legislative, Exekutive, Judikative – den Schutz der natürlichen Mitwelt um ihrer selbst willen und um unser Überleben willen festlegt. Sie muss weiterhin dafür sorgen, dass der Entfaltungsmöglichkeit des Einzelnen ökologische Schranken gezogen werden. Eine solche ökologische Grundrechtsschranke muss für alle verbindlich klarstellen, dass die freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht nur, wie bisher etwa im Artikel 2 Abs. 1 unseres Grundgesetzes, ihre Grenze an den Rechten anderer, der verfassungsmäßigen Ordnung und dem Sittengesetz findet. Künftig muss die freie Entfaltung des Menschen von verfassungswegen auch dort enden, wo sie die natürlichen Lebensgrundlagen in einer Weise untergräbt, dass ihre Regenerations- und Widerstandsfähigkeit (resilience) überfordert und ihre Nachhaltigkkeit (sustainability) beeinträchtigt wird.
Gefragt ist damit eine Wirtschaft, deren Rahmenbedingungen und Spielregeln derart gewählt werden, dass in dem von ihnen zugelassenen freien Spiel der Kräfte eine Optimierung der gewünschten Werte erreicht werden kann. Die Einführung solcher Rahmenbedingungen steht nicht im Widerspruch zur Vorstellung einer „freien Marktwirtschaft“ in der üblichen Bedeutung, weil Freiheit nie von Verantwortung entkoppelt werden kann. Auch die bisher üblichen Marktmechanismen sind ja nicht „frei“ im Sinne von „willkürlich“, da sie sich an gewissen Normen – so vor allem die Menschenrechte und andere Gesetze von Recht und Ordnung – halten müssen.
Es ist jedoch dringend geboten, hier weitere Forderungen zu erheben, um wenigstens die verbal schon immer laut proklamierten Bedingungen des Generationenvertrags zu erfüllen, der uns doch verpflichtet, nach Möglichkeit unseren Kindern keine minderwertigere Erde als die von unseren Eltern übernommene zu hinterlassen. Es ist dringend notwendig, dass wir uns ernste Gedanken darüber machen, wie solche neuen Rahmenbedingungen aussehen könnten, um der berühmten „unsichtbaren Hand“ der Wirtschaft, die aus einsichtigen Motiven so leicht und gerne die eigene Tasche füllt, über die kurzfristigen Egoismen hinaus auch etwas Vernunft beizubringen, welche in einer langfristigen Überlebensstrategie und eben einer „nachhaltigen Wirtschaftsweise“ zum Ausdruck kommt. Klar dabei ist nur, dass solche neuen Rahmenbedingungen notwendig die bisher „äußere Natur“ in geeigneter Form in die Wirtschaft einbeziehen müssen, wobei verhindert werden sollte, dass dabei das vielfältige Wertesystem der natürlichen Ordnungsstrukturen der einfältigen, eindimensionalen Werteskala der Wirtschaft, nämlich dem durch Geld bemessenen Tauschwert, geopfert wird.
Was tun – was lassen?
Auf den ersten Blick erscheint der jetzige Zeitpunkt für eine politische Umsetzung dieser Maßnahmen in den industrialisierten Gesellschaften gar nicht so ungünstig. Viele Menschen zeigen sich – angesichts der globalen Klimaerwärmung und ihren unabsehbaren Folgen oder des anhaltenden Verlustes biologischer Vielfalt – von der Umweltproblematik beunruhigt. Viele alten Überzeugungen sind ins Rutschen gekommen. Die Forderung nach tiefgreifenden Reformen wird lauter, und es wächst auch die allgemeine Bereitschaft, sich in diesem Prozess selbst zu engagieren und auch mögliche persönliche Nachteile dabei zu tolerieren. Wenngleich auch viele versuchen, dieses drückende Unbehagen einfach zu verdrängen – oft aus verständlicher Hilflosigkeit der verwirrend komplexen ökologischen Problematik gegenüber oder aus Frustration über den viel zu langsamen Fortschritt bei deren Wahrnehmung und Lösung.
Was also sollen wir tun und insbesondere, was müssen wir unterlassen, um die Produktionsfähigkeit und Vitalität, die Nachhaltigkeit unserer Ökosphäre optimal zu unterstützen? Viele erwarten hier von den Naturwissenschaftlern die wesentlichen Einsichten und praktischen Hinweise, da diese, wie sie glauben, doch aufgrund ihrer Kenntnis der Naturgesetzlichkeit die zukünftigen Entwicklungen am besten abschätzen können. Ich bin hier eher skeptisch. Gewiss, von vielen ökologischen Problemen wissen wir erst aufgrund der Experimente und Theoriebildungen der Naturwissenschaften. Ohne sie würden wir uns in einem ökologischen Blindflug befinden. Dennoch: Die Prognosefähigkeit der Naturwissenschaften ist im Falle hochkomplexer Systeme äußerst begrenzt. Ich glaube stattdessen, dass zuweilen unsere traditionelle Weisheit, das Wissen, das wir aus dem großen Erbe der Weltreligionen und -kulturen schöpfen und das uns Liebe, Mitgefühl, Kooperation und Solidarität lehrt, uns bei der Bewertung von all dem naturwissenschaftlichen Wissen, das wir haben, eine weit bessere Orientierung geben können.
Wie dem auch sei: Bei allem naturwissenschaftlichen Wissen, bei allen technischen Möglichkeiten und (wirtschafts-)politischen Instrumentarien – wir brauchen Leute, die angeben, was im konkreten Fall tatsächlich gemacht werden sollte, sowie Leute, die dann die Verantwortung übernehmen und die Initiative ergreifen, dieses auch praktisch zu implementieren. Verantwortung zu übernehmen ist hier nicht nur eine Frage der Stärke und des Mutes, sondern verlangt vor allem eine ausreichende Wahrnehmung der Komplexität der Natur und ein viel weitergehenderes Einfühlungsvermögen in die dort ablaufenden, hochvernetzten Prozesse, die durch eine sensibel austarierte Balance von Kräften und Gegenkräften in einem lebendigen Gleichgewicht gehalten werden. Es verlangt darüber hinaus aber auch eine Einsicht in die „Topologie“, die Beziehungsstrukturen unseres eigenen Wissens, um den Wert und die Grenzen des eigenen Verständnisses beurteilen und die Genauigkeit und Verlässlichkeit einer Voraussage abschätzen zu können.
In vielen Fällen wird Verantwortlichkeit deshalb nicht darin bestehen, bestimmte Aktionen in Gang zu setzen, sondern viel mehr im Gegenteil Mäßigung und Gemächlichkeit zu üben, um der Natur eine faire Chance zu geben, alle unsere vielfältigen Fehlentscheidungen und Fehlhandlungen mit ihrem reichen Instrumentarium auszubügeln. Es ist deshalb dringend geboten, auf Kooperation und nicht auf Gegnerschaft mit der Natur und ihre Beherrschung zu setzen, mit der berechtigten Aussicht, damit auch an ihrer milliardenjahre langen Erfahrung teilzuhaben.
Genauigkeit oder Gefühl?
Wie aber können wir überhaupt Verantwortung übernehmen? Denn Verantwortung zu tragen und zu übernehmen scheint doch vorauszusetzen, dass wir zukünftige Ereignisse als Folge unseres Tuns überhaupt vorhersehen können. Eine genaue Prognose ist aber – wie ich mehrfach in diesem Buch betont habe – aus naturwissenschaftlicher Sicht praktisch und auch prinzipiell unmöglich. Wie sollten wir dann für etwas, das wir tun oder nicht tun, zur Verantwortung gezogen werden können? Viele, die an der zukünftigen Entwicklung unserer Gesellschaft aktiv arbeiten, meinen daher, dass sie angesichts der Unabsehbarkeit von Zukunft eigentlich im strengen Sinne keine Verantwortung für die Folgen ihres Tuns übernehmen können. Ich bin hier jedoch andere Meinung.
Es kommt nämlich bei der Frage der Verantwortung nicht auf die Genauigkeit an, mit der etwas prognostiziert werden kann, sondern es kommt vor allem darauf an, dass wir ein Gefühl dafür entwickeln, welche möglichen Konsequenzen sich aus einer gegebenen Situation entwickeln können. Dies gilt insbesondere für die Wissenschaft, auf deren Erkenntnisse unsere gesellschaftlich-ökonomischer Entwicklungen im Großen und Ganzen basieren. Ein Wissenschaftler z. B. ist also dazu gefordert, dass er eine Augen aufmacht und – wie bereits oben erwähnt – gewissermaßen die Topologie, die Form des Geländes, in das er so forsch hineinmarschiert, genauer wahrnimmt. Das ist nicht nur eine Frage des Talents, sondern diese Fähigkeit muss auch geeignet entwickelt werden und vor allem eingeübt werden, woran es in unserem jetzigen Ausbildungssystem enorm mangelt.
T-Intelligenz
Die heutigen Anforderungen erfordern dringend die Ausbildung einer T-Intelligenz, einer Intelligenz, die durch den Großbuchstaben „T“ symbolisiert werden kann. Der Vertikalbalken soll hierbei die heute hauptsächlich betonte Kompetenz eines Spezialisten kennzeichnen. Der Horizontalbalken soll ausdrücken, dass dieses Spezialwissen geeignet in einen größeren Sinnzusammenhang eingebettet werden muss. Nur diese zusätzliche Quersicht erlaubt uns eine ausreichende Orientierung bei unserer spezialisierten Einsicht.
Wenn ich im Nebel laufe, aber weiß, dass sich auf der Sohle eines breiten Wiesentales bin, kann ich getrost weitergehen. Denn wenn ich ein bisschen vom Weg abkomme, kann mir nichts Schlimmes passieren. Wenn ich aber auf einem schmalen Gebirgsgrat im Nebel wandere oder einen Lawinenhang überquere, dann wird dies gefährlich. Ich kann durch einen Fehltritt abstürzen oder, im zweiten Fall, aus prinzipieller Unkenntnis der genauen Beschaffenheit des Schnees in die Tiefe gerissen werden. Ich kann mich in diesen Situationen zum Weitergehen entscheiden, wenn ich alleine bin. Wenn ich Pech habe, stürze ich eben ab und bezahle meine Unvorsichtigkeit mit meinem eigenen Leben. Ich trage die Verantwortung und akzeptiere den möglichen Schaden. Aber wenn ich eine Gruppe von Leute am Seil habe oder, metaphorisch, die ganze Menschheit zu meiner Seilschaft gehört, dann darf ich in diesem Fall einfach nicht weitergehen. Ich kann hier die Verantwortung gar nicht übernehmen, weil die Topologie des Geländes dies einfach nicht erlaubt.
Auf die Wissenschaft übertragen heißt das: Wenn ich als Wissenschaftler mich auf ein höchst gefährliches Gelände begebe, bei dem mögliche Folgen, unabhängig von der Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens, nicht mehr akzeptabel erscheinen (und dies kann ich als Wissenschaftler eigentlich nur gut einschätzen, wenn ich über T-Intelligenz verfüge), so darf ich diese Wissenschaft einfach nicht weitertreiben. Ich brauche dazu nicht genau zu wissen, ob ich das eine oder andere kann oder nicht kann, ich muss einfach damit rechnen, dass auch mir ein voraussehbarer, obgleich seltener oder nicht voraussehbarer Fehltritt passiert und das dann der Schaden, den ich dabei auslöse, zu groß ist, um von mir allein verantwortlich getragen werden zu können. Die Hoffnung auf die Statistik darf uns nicht dazu verleiten, die Menschheit in einen Lawinenhang zu führen. Eine solche Handlung ist ethisch nicht vertretbar.
Einer ähnlichen Problematik begegnen wir bei der von der Wissenschaft begleiteten Technologieentwicklung oder aber auch generell im wirtschaftlichen Bereich. Auch hier konzentrieren wir uns auf einen ganz speziellen, positiven Aspekt des ganzen Wirtschaftsprozesses und sagen: „Dies ist doch profitabel“ und ignorieren schlicht und einfach den übrigen Teil. Warum? Weil es dem Betriebswirt nur wichtig ist, dass seine Betriebsrechnung nicht zu einem negativen Abschluss kommt, unabhängig davon, ob er deswegen Kosten auf die Volkswirtschaft abwälzt. Die Volkswirtschaft wiederum versucht diese Kosten dem Steuerzahler oder vermehrt den Entwicklungsländern und/oder nachfolgenden Generationen aufzubürden und/oder aber – was das einfachste ist – damit das Ökosystem der ganzen Erde zu belasten, über deren „Wirtschaft“ bisher noch niemand Buch führt, so dass die dort immens ansteigenden Schulden unsichtbar bleiben.
Eine Sicherung der Nachhaltigkeit, der langfristigen Tragfähigkeit der Ökosphäre, erfordert von uns daher ein neues Verständnis unserer Rolle als Teil dieses komplexen Ökosystems. Erst auf dieser Basis sind unsere Entscheidungen – sei es als Wissenschaftler, Techniker, Ökonom oder auch nur im Alltag – in einem hinreichend umfassenden Sinn „intelligent“ und verantwortbar.